"A journalist who is also a bad programmer, stylized in the style of Gary Larson"

Antiquierte Artikel: Vorspruch zu einem Experiment

Es fällt mir schwer, das zu schreiben, aber ärgerlicherweise hat Jeff Jarvis vermutlich mal wieder Recht. Der Artikel als journalistische Form ist heftig gealtert und sieht im Netzzeitalter allmählich auch so aus. (Eine hervorragende Leseliste mit vielem Bedenkenswerten zu dieser Debatte hat Jonathan Stray zusammengetragen.)

Klar ist: Die Form des statischen, in sich abgeschlossenen Textes stammt aus der Zeit, als Deadlines eine technische Notwendigkeit waren und Papier state of the art war als Medium für aktuelle Berichterstattung. Online geht mehr – gerade für eine bestimmte Klasse von Nachrichtenereignissen: Für „breaking news“ und beispielsweise Sportereignisse, bei denen sich ständig ein neuer Stand entwickelt, sind Artikel schon deshalb unhandlich, weil man sie dauernd überarbeiten muss.

Jarvis geht allerdings weiter: er schlägt schon seit längerem vor, den Leser transparent an der journalistischen Arbeit teilhaben zu lassen – gerade, wenn der Journalist noch nicht zu einem abschließenden Ergebnis gekommen ist. Das Stichwort hier ist Betajournalismus oder Prozessjournalismus, ein beachtenswertes Beispiel von The Daily Beast über die Recherche zum Tod eines Clubgängers hier (mit einem Hinter-den-Kulissen-Stück hier). Auf der anderen Seite hätte man seine Arbeit ja nicht gemacht, wenn man den Abnehmern unserer journalistischen Produkte nicht alles Uninteressante erspart – offensichtlich müssen Betajournalisten hier eine Balance finden zwischen Transparenz und Geschwätzigkeit.

Das Sündenregister des Artikels

Festhalten möchte ich, dass Artikel meiner Meinung nach in der Tat in diesen Punkten zu wünschen übrig lassen:

  • Sie veralten schnell. Der Nutzer hat keine Garantie, dass sie dem aktuellen Nachrichtenstand entsprechen – wer via Suchmaschine oder Deeplink auf ein Einzeldokument geführt wurde, kann da gewaltigen Irrtümern aufsitzen; es sei denn, die Redaktionen pflegen Links und neue Stände auch in ältere Dokumente ein, was aufwändig ist und zudem von Google News nicht gerade belohnt wird.
  • Sie nutzen das Potential des Netzes nicht. Das Netz lädt dazu ein, auf Quellen und Konkurrenzangebote zu verlinken – auch wenn sich gerade traditionelle Medienhäuser damit schwer tun, ist das durchaus zum eigenen  Vorteil. Artikel sind Kinder einer Zeit, als der Leser in der Regel nur eine einzige Nachrichtenquelle vor sich hatte – die Zeitung – und die also Vollversorgung mit allen relevanten Informationen garantieren musste – diese Notwendigkeit fällt in Zeiten der digitalen Entbündelung weg.
  • Artikel quetschen alles in einen Erzählstrang. Sie sind lineare Texte und müssen deshalb eine Geschichte erzählen – die mitunter an Übersicht und Lesbarkeit gewinnt, wenn sie auf mehrere Erzählströme aufgeteilt wird.
  • Sie eignen sich nicht fürs Kleinteilige. Wer einen Artikel anfängt, will doch zumindest den Seitenumbruch erreichen – der „Fluch der leeren Seite“ zwingt zum Übertexten.
  • Multimedia-Inhalte sind in vielen CMS unhandlich. Die Einbindung von Bildern, Videos, Audios in den Erzählstrom ist umständlich und bremst den Autor aus.
  • Sie haben nur dünne Rückkanäle (wenn überhaupt): Artikel sind nicht dafür konstruiert, Plattform für Konversationen zu sein – anders als Soziale Netze. Nutzerbeiträge fließen selten in den Artikel ein; sie sind in der Regel allenfalls als Kommentar zum abgeschlossenen Produkt möglich. Die Macht des Sozialen Internets wird nicht angezapft; die Chance, seine Nutzer emotional einzubeziehen und zu Anschlusskommunikation zu animieren, verstreicht.

Das Gegenbild möchte ich in Abgrenzung von den sperrigen Wortmonstern  „Betajournalismus“ und „Prozessjournalismus“ mal Streamjournalismus nennen:

  • Kleinteiligkeit und einfache Tools ermöglichen Machern schnelle Reaktion.
  • Möglichkeit, mehrere parallele Nachrichtenströme zu eröffnen
  • Linkjournalismus: Verweis auf Quellen und Beiträge anderer Medien
  • Kuratierung von Nutzerreaktionen – schnelle Einbindung von Stimmungen und Rückmeldungen: Interaktivität
  • Immer ein aktueller Stand. Der Leser bezahlt die Echtzeit-Information allerdings mit erhöhtem Leseaufwand – oder die Redaktion muss wenigstens Schlagzeilen anbieten.
  • Transparente Korrektur von veralteten Informationen oder Fehlschlüssen („Islamistischer Terror“)

Andererseits: was nicht alles schon für tot erklärt worden. Der Autor. Die Molekularküche. Punk. Gott. Die Tonbildschau. Weshalb ich gerne ein kleines Experiment starten möchte: Die Suche nach geeigneten Formen und Werkzeugen soll in Form eines Erzählstroms stattfinden – in diesem Fall bei Spotify, eins der Werkzeuge, das für Streamjournalismus konstruiert worden ist.

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