"A journalist who is also a bad programmer, stylized in the style of Gary Larson"

Der sendungsbewusste Sterbekandidat – das Problem mit dem Radio 2.0

Was soll aus dem ältesten elektronischen Medium werden im Internetzeitalter? Teil 1 eines Essays für den Tagungsband der Medientage 2009 in Passau. Gekürzt und überarbeitet.

„R@adio 2.0“ – wie, bitte, soll man das aussprechen? „Rätdio Two-oh“ oder „Erklammeraffedio zweinull“? Klar ist: Der Vortrag „R@dio 2.0“ auf dem Deutschen Medienkongress in Frankfurt Anfang Januar ist vom Start weg ein klarer Kandidat für Bullshit-Bingo.  Was soll’s: Besucher von Medienkongressen sind Kummer gewöhnt. Und trotz des Fremdschäm-Titels lohnt sich das Zuhören: Erwin Linnenbach, Geschäftsführer des unauffälligen Radio-Riesen Regiocast, spricht über das Radio der Zukunft. — Moment: Radio? Zukunft? Audiostream analog als Medium mit Wachstumschanchen? Linnenbach stellt es so dar. Er redet von steigenden Hördauern, von genauer Zielgruppenansprache, von Chancen für Newcomer. Und – nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg – von den guten Geschäften, die Regiocast mit dem Bundesliga-Webradio 90elf macht. Und spätestens da muss man wach werden: Live-Fußball, das wissen leidgeprüfte Medienmacher, hat seine eigenen Gesetze. Also, mal abseits der Verkaufe: lohnt es sich heute noch, mit Radio weiterzumachen – oder gar damit anzufangen? (Offenlegung: Der Autor hat seine Wurzeln vor allem im Radio und ist gelegentlich im Einsatz für diverse Radioredaktionen seines öffentlich-rechtlichen Arbeitgebers.)

Zeit für eine kleine Standortbestimmung des Radios im 21. Jahrhundert.

Was wollen die von uns?

Radio – das war einmal ein junges Medium, selbst als es schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel hatte. Die Popradios sind in den 70ern und 80ern groß geworden und ihre heutigen Hörer mit ihnen: Die frechen Radiostars und ihre Musik – damit ist die Babyboomer-Generation aufgewachsen. Und ihre potentiellen Nachfolger? Mit denen hat man – als Macher eines analogen Mediums – nichts als Ärger. Was soll man schon von Leuten halten, denen – laut einer Umfrage des IT-Branchenverbandes Bitkom – ihr Handy und ihr Internet-Zugang im Zweifelsfall lieber sind als Auto oder Freundin?

Wenn man im Computerzeitalter aufgewachsen ist und sein ganzes bisheriges Erwachsenenleben mit WWW und Mobiltelefon zugebracht hat, dann sieht man die Medienwelt anders – ob man alle nach 1980 Geborenen gleich pauschal als „Digital Natives“ einsortieren soll, darüber darf man streiten, aber ich behaupte: wenn die Mehrheit einer Generation von Kindheit an gewöhnt ist an das Multimedium Internet, das alle anderen Medien nach und nach integriert, dann – behaupte ich – verschieben sich die Erwartungen. Diejenigen, die ich in Ermangelung eines griffigeren Schlagworts dann doch wieder als „Digital Natives“ etikettieren will, sind einfach andere Dinge gewohnt von Medien.

Im Netz erleben sie Interaktivität statt Linearität.

Das Transistorradio war mal ein ziemlich gutes Gerät, um sich mit Musik in Stimmung zu bringen – im Radiosoziologendeutsch heißt das „mood management“ – und sich zugleich über den Radiosender als Anhänger einer bestimmten Musikfarbe zu definieren; am besten eine, mit der man die Erwachsenen ärgert. Allerdings muss ich mich als Radiohörer dem Diktat des Programmplaners unterwerfen – für das es gute Gründe gibt, auf die wir gleich noch kommen werden – und damit auch dem Sendeplan: Radio heißt nun einmal analog linear, und zum nächsten Titel oder Beitrag springen geht ebenso wenig wie zurückhören.

Kein Wunder, dass bei den heutigen Jugendlichen der MP3-Player das UKW-Radio verdrängt hat – und inzwischen sogar das MP3-fähige Handy die Musikmaschine Nummer eins ist bei vielen. Die an Wortprogramm interessierte Minderheit bildet eine kleine, aber stabile Gefolgschaft für Podcasts, mit deren Hilfe sie ihr eigener Programmdirektor wird, und wer die „lean-back“-Nutzung schätzt und sich nicht alles erst zusammenklicken will – auch auf diesen Punkt werden wir noch zurückkommen – der hat beispielsweise die Möglichkeit, sich in eine individuelle Playlist mit Musikvideos bei Youtube einzuklinken.

Gemein ist allen diesen Nutzungsformen, dass die Hoheit über das, was die Gehörgänge des Nutzers erreicht, bei ihm selbst liegt und nicht bei der Sendeablaufsteuerung im Funkhaus – These Nummer 1: Heutige Mediennutzer verlangen diese Autonomie.

Individuelle Angebote statt Format.

Erfolgreiche Radioprogramme basieren auf einem ganz einfachen Prinzip: Such dir eine Zielgruppe, und dann ziele in ihre Mitte. Genauer gesagt: Schnüre ein Programm-Paket, das sich an dem Menschen genau in der Mitte dieser Zielgruppe wendet; den Medianhörer. Liefere ihm ein Flächenprogramm – garantiere ihm also, dass er seinen Geschmack bedient findet, wann auch immer er einschaltet. Und am wichtigsten: Tue nichts, was den Medianhörer so sehr irritiert, dass er das Programm wechselt. Was ein erfolgsorientierter Programmmacher also tunlichst vermeiden sollte, ist Nischenprogramm – etwas, womit eine kleine Gruppe am Rande der Zielgruppe sehr glücklich wird, sagen wir: die Fans von harter Rockmusik, was den Medianhörer aber stört.

Realität in der Welt der UKW-Sender, unvorstellbar im Netz, wo plötzlich weltweite Konkurrenz herrscht und somit auch fast jeder Nischengeschmack perfekt bedient wird. Dank der effizienten und spottbilligen Verbreitungstechnik Internet verschiebt sich die Nachfrage nach Medieninhalten in den „long tail“: zu den Nischenangeboten, die nur für wenige das Richtige sind, aber eben genau das Richtige.

Was jetzt nicht heißt, dass es keine großen Hits mehr gibt oder Mainstream-Angebote alle Fans verlieren, aber: auf der einen Seite bekommt man es mit neuen Mitbewerbern zu tun, die das Gleiche tun wie man selbst, weil die Barrieren für den Markteintritt gesunken sind. Zum anderen bröckelt die Zielgruppe an den Rändern: Wer sich an die Internet-Ökonomie gewöhnt hat, ist gewohnt, genau das zu bekommen, was er/sie will, und nicht irgendein Kompromissangebot. These Nummer 2: Die Akzeptanz von Mainstream-Angeboten sinkt.

Verzicht auf journalistisch begründete Vorauswahl.

Eine Zeitung hat eine begrenzte Anzahl Seiten, ein Sender eine begrenzte Anzahl Sendestunden. Also müssen die Redaktionen eine Auswahl treffen und ein Paket schnüren aus all den Dingen, die sie für wichtig halten. Informationen sammeln, das Wichtige auswählen, eine Geschichte erzählen – dieser Dreiklang bestimmt Selbstverständnis und Alltag.

Der Großteil dieses Alltags geht bei den meisten Journalisten für die Auswahl der Informationen drauf – denn das Ausgangsmaterial ist bei vielen Redaktionen weitgehend gleich: Agenturmeldungen; das Archiv (also das, was die anderen schreiben oder geschrieben haben); zunehmend: Wikipedia-Einträge und die ersten drei Treffer der Google-Suche. Zu diesen Quellen hat aber heutzutage praktisch jeder Zugang – und kann sich daran reiben, dass die Journalisten gekürzt, gewichtet, ausgewählt haben. Was, bitteschön, soll denn an dem, was die tun, so besonderes sein? Und: Wer auswählt, macht sich verdächtig – ganz besonders, wenn dies „Wer“ nicht eine einzelne Person ist, deren Stärken und Vorurteile man kennt, sondern eine eher anonyme Redaktion. Die Häme, mit der engagierte Blogger den Begriff „Qualitätsjournalismus“ benutzen, hat viel mit den Differenzen über die Auswahlkriterien zu tun.

Aber: Besteht nicht grundsätzlich Bedarf für journalistische Auswahl, gerade angesichts der Informationsflut im Netz? Die ernüchternde Perspektive: Immer weniger. Der Reihe nach: Im Netz ist, anders als in der Zeitung und im Programm, unbegrenzt Platz – aber auch der Netzbürger hat nicht unbegrenzt Zeit. Auch im Netz haben sich Auswahlmechanismen etabliert – aber die Reihenfolge, nach der sie arbeiten, ist umgekehrt: erst stehen die Dinge im Netz, dann wählt der Nutzer sie aus.

Er hat Hilfe dabei. Da sind zum einen die Algorithmen; neben Suchmaschinen sind das beispielsweise „recommendation engines“. Viele dieser Algorithmen zapfen das Verhalten der Netznutzer an. Deren Kooperation ist ein weiterer effizienter Auswahlmechanismus: Wikipedia braucht keine Redakteure. Über die Empfehlungsmechanismen der sozialen Netze wie Twitter, Facebook, Digg und Co. kann ich etwas weitergeben, das ich für wichtig und empfehlenswert halte – und was mein Umfeld mir empfiehlt, passt möglicherweise besser zu mir als das Angebots-Paket der journalistischen Redaktionen. Mein soziales Netz führt mir für mich relevante und interessante Informationen zu: „Wenn die Nachricht wichtig ist, dann wird sie mich schon finden.“  Journalisten sind allmählich dabei, ihre Rolle als Agenda-Setter an Algorithmen und Soziale Netzwerke zu verlieren: Was Thema ist und was nicht, das haben sie noch weniger unter Kontrolle als früher schon. These Nummer 3: Das Monopol der „Gatekeeper“ ist weg. Und eine lautstarke Minderheit empfindet redaktionelle Auswahl nicht etwa als Sicherung der Qualität, sondern sogar als Bevormundung.

Offenheit statt Begrenztheit.

Warum sollte eine Redaktion nicht auf das verweisen, was Konkurrenten tun? Nun, wenn der verhasste Dudelsender das Interview mit dem Politiker X. exklusiv hatte, interviewt man Herrn X. lieber noch einmal selber. Sonst entsteht am Ende beim Hörer der Verdacht, er bekomme bei „seinem“ Sender nicht alles, was er brauche.Wieder einmal bestimmen die Grenzen, die das Analogzeitalter Medienangeboten setzt, ihr Verhalten: Die Pakete, die Zeitungs-, Fernseh- und Radio-Redaktionen den Nutzern schnüren, erheben einen gewissen Anspruch auf Vollständigkeit, auf Vollversorgung mit den entscheidenden Dingen. „Kurz das Wichtigste“ ist nicht ohne Grund zu einer der meist verwendeten Radiofloskeln geworden: Bei uns ist alles drin – das eine der wichtigsten Botschaften, die auch Radiomacher vermitteln wollen.

Im Netz wäre das ein vergleichsweise absurdes Konzept: eine Welt, in der man nicht auf einzelne Artikel, Audios, Videos, Bilder verlinken kann, sondern nur auf die Startseite des jeweiligen Anbieters. Internet-Medien sind anschlussfähig, das macht ihre große Stärke aus: Sich von Link zu Link treiben zu lassen, eine beliebige Seite als Einstieg in eine neue Welt zu nutzen – Hypertextualität.Links auf Konkurrenzangebote setzen – damit tun sich Medien, die aus dem Analogzeitalter kommen, auch im Netz schwer. Der Instinkt, dem Nutzer auch online ein Rundum-Paket anbieten zu wollen, sitzt tief. Außerdem führen sie vom eigenen Angebot weg, das doch möglichst viele Abrufe erzeugen soll.

Zudem konkurrieren die eigenen Inhalte im Netz plötzlich mit einer Vielfalt, die deutlich werden lässt, wie dünn sich die Redaktionen zum Teil gestreckt haben, um ihre All-inclusive-Angebote schnüren zu können. Kann der Reporter aus der Morgenschicht, der sich eben eine halbe Stunde lang in die Agenturen zu einem komplexen technischen Thema einliest, wirklich mithalten mit dem, was eine Fachbloggerin dazu verfasst hat, die sich mit fast nichts anderem beschäftigt? Die Zeit der Generalisten neigt sich dem Ende zu; und das sind genau die, die in der analogen Welt besonders gut zu gebrauchen waren.

Für Netznutzer haben die begrenzten und in sich geschlossenen Informationswelten klassischer Medienangebote nur eingeschränkte Strahlkraft. These Nummer 4: Offene, verlinkte, anschlussfähige Angebote werden zur immer größeren Herausforderung für die All-inclusive-Pakete aus der klassischen Medienwelt.

Dialog statt Sendung.

Sollte man soziale Netze als die Verwirklichung von Brechts Radiotheorie zu sehen? Die ist, wenn wir ehrlich sind, weniger die Vorwegnahme von Twitter und Co. als die Beschreibung dessen, was Radiosender seit Jahrzehnten tun: Hörerbeteiligung in Form von Call-ins, Abstimmungen, Spiele, Anrufe aus dem Studio und ins Studio, Sender-Events und Radioclubs. Interaktives gehört seit jeher zum Arsenal der Radiomacher, auch lang vor Facebook und Co.Und doch: Nutzerbeteiligung in analogen Medien hat enge Grenzen; mehr noch: die Macher sind meist alles andere als begeistert über sie.

Diese Sichtweise gründet auf Erfahrungen, die wieder mit den Grenzen der analogen Welt zu tun haben: Solange ich nicht unbegrenzt Platz habe und ein Paket schnüren muss, muss ich diejenigen Meinungen und Äußerungen auswählen, die dem von mir gesetzten Standard entsprechen. Da die Nutzer aus Journalistensicht dazu neigen, eher eine Meinung zu haben als eine Ahnung, da sie mal unsachlich, mal unbeholfen sind, sich manchmal auch beleidigend äußern, rassistisch oder anderweitig kriminell, ist die Neigung groß, den Rückkanal zu drosseln und zu filtern; schließlich ist man der Qualität des Produkts verpflichtet.

Dieses gelernte Verhalten trifft auf Netz-Nutzer, die gewohnt sind, jeden Artikel kommentieren zu können und erwarten, dass die Medien-Produzenten ihre Kommentare ernst nehmen, ihnen auf Augenhöhe begegnen. Die aber tun sich schwer.

Hinzu kommt, dass gerade Rundfunkjournalisten von Sendungsbewusstsein durchdrungen sind; ihre erlernte Rolle als Gatekeeper lässt sie häufig mit Geringschätzung auf nicht professionelle Medienprodukte und Standpunkte blicken – und verkennen, dass sie in den Dialogwelten der Social Media ein wenig wirken wie der überlaute Besserwisser, der jede Diskussion am Kneipentisch sofort an sich zieht. These Nummer 5: Die linearen Medien tun sich schwer damit, vom Sockel zu steigen und zuzuhören – aber Dialog, nicht Sendung, bestimmt das Internetzeitalter.

Weiter: Teil 2 – Trost und Rat von Riepl und den Couch Potatoes

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Kommentare

2 Antworten zu „Der sendungsbewusste Sterbekandidat – das Problem mit dem Radio 2.0“

  1. […] bisher geschah: In Teil 1 [hier zu finden] habe ich skizziert, wie alt das Radio allmählich auszusehen beginnt. Jetzt gilt es festzuhalten, […]

  2. […] bisher geschah: Teil 1 [hier zu finden] hat sich den Unterschieden in der Medienökonomie und Binnenlogik zwischen dem analogen Radio und […]

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