Die Hauptnutzungszeit von Communities ist am späten Nachmittag und in den Abendstunden zu verzeichnen. (ARD-ZDF-Onlinestudie 2012)
Wenn der User aufwacht, gehen die meisten Organisationen schlafen. Das ist weder im Sinne der Webseiten-Betreiber noch der Nutzer, zeigt aber ganz gut, wie Kommentare auf Online-Angeboten gewertet werden: Ja, man braucht sie für den Traffic, aber mal ehrlich, wann kommt schon was Sinnvolles dabei rum. Oder etwas differenzierter: Kommentare könnten richtig gute Anregungen, gehaltvolle Diskussionen und dringend benötigtes Feedback bieten – positiv wie negativ – wenn nicht die guten Kommentare all zu oft absaufen würden im Meer der Trollereien, Provokationen, Non-Sequiturs und „Erster!“-Rufe.
Wenn jedenfalls ein Alphaalphablogger wie Markus Beckedahl laut „Es reicht!“ ruft und trocken feststellt, von rund 130.000 Kommentaren in den letzten 8 Jahren seien die meisten Zeitverschwendung gewesen, und er würde seine Zeit doch lieber in sinnvollere Dinge stecken, dann ist das ein Alarmzeichen, das man nicht übersehen kann. Und da wird es kaum ein Trost für Markus sein, dass schon einer der Gründer des legendären Ur-Forums „The WELL“ einst genervt die Flucht vor den Trollen ergriff: „Ich ertappte mich dabei, wie mir vor einer öffentlichen WELL-Konferenz über Foren-Administration die Hände zu zittern begannen. Diese Art Auseinandersetzung ist tödlich, und es gibt keinen Ausweg außer dem Ausstieg“, erzählt er WIRED.
Immerhin: Der Netzpolitik-Rant hat dafür gesorgt, dass man über den Umgang mit Kommentaren nachdenkt, und nicht nur im Kommentarstrang auf Netzpolitik.org nimmt die Diskussion – abseits der zu erwartenden „Pussy!“–Rufe – eine interessante Wendung: Sie richtet sich auf die Bedeutung, die das Kommentarsystem einer Seite auf die Qualität der Diskussionen hat.
Das Problem ist ja für viele Seiten ähnlich: Wie kann ich dafür sorgen, dass bessere Diskussionen gefördert werden? M.E. gibt es die folgenden Ansätze für verbesserte Kommentarsysteme:
- Massive Filterung mit Personal und/oder Maschinen. Das dann entsprechend hart durchgreifen kann – und entsprechend geschult sein sollte in Community Management. Für kleine Webseiten kein möglicher Weg. Die Huffington Post setzt auf ein automatisiertes Filtersystem, aber wenn das ähnlich gut funktioniert wie die Sentiment-Analyse beim Social Media Monitoring, möchte ich darauf lieber nicht setzen.
- Personalisierung. Zurück zu den Anfängen: Anmeldepflicht, wenn möglich mit Klarnamen, auf jeden Fall aber mit einem Profil, auf dessen Sauberkeit die Nutzer schon achten werden. Da nur die wenigsten Nutzer bereit sind, sich für jede Seite eine Anmeldung zuzulegen, liegt es nahe, das über OpenID zu ermöglichen, über Twitter oder über Google+ – oder gleich das Kommentarsystem von Facebook zu benutzen. Das scheint 2010 für den „Stern“ gut funktioniert zu haben; ich habe aber Zweifel, dass Facebook allein gehaltvolle Kommentare garantiert. Für Netzpolitik.org ist das KO-Kriterium in diesem Fall der Datenschutz – Identitätsmanagement über Dritte bedingt in den meisten Fällen, dass die Kommentatoren getrackt werden könnten.
- Belohnung für die Musterschüler. Eins meiner persönlichen re:publica-Highlights war der Vortrag von Sebastian Horn und Max Neufeind über Kommentator-Typen in einer Zeit-Online-Debatte – auch weil er eine konkrete Empfehlung im Schlepptau hatte: Päppelt eure guten Kommentatoren – sie sind das Salz der Debatte. Lobt sie, beschützt sie; wenn euch etwas einfällt, um sie hervorzuheben, belohnt sie. Das kann man ja einfach über konsequentes Community-Management tun, aber auch über Ideen wie Kommentatoren-Karma – das Modewort „Gamification“ hebt sein schweres Haupt – jedenfalls kann man sich alles Mögliche ausdenken, um den Musterschülern Online-Karma und Gewicht zu verleihen.
- Flagging. Die Umkehrung des Lobens und auch eine ganz alte Idee. Loben funktioniert besser als Anprangern, predigen uns die Pädagogen, und es hat schon einen Grund, dass Facebook nur den positiven „Like“-Button hat. Ein Sternchen in dieser Sparte hat für mich übrigens der „Standard“ verdient, der die Guten lobt, indem er die Bösen vorführt – schön wienerisch-ironisch in seiner wöchentlichen „Posting-Friedhof“-Kolumne.
- Aufmerksamkeitssteuerung. Mit dieser Methode experimentiert das US-Blog „Gawker“: Kommentare, die auf einen anderen Kommentar reagieren, werden häufiger angezeigt – die meisten Kommentare auf den Original-Post sogar ausgeblendet. Wenn ein Diskussionsstrang einmal läuft, wird er ebenfalls hervorgehoben. Das schließt für mich aufs Trefflichste auf einen anderen Befund der oben unter 3 erwähnten Untersuchung von Sebastian Horn und Max Neufeind an: dass sich Qualität auszahlt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein gehaltvoller Kommentar seinerseits kommentiert wird, ist höher als bei Provokationen, hatten sie herausgefunden.
Fest steht für mich jedenfalls: Die Form des Kommentarsystems hat einen gewaltigen Einfluss auf die Qualität der Kommentare. Wie man die Ansätze am intelligentesten kombiniert? Ich wüsste es auch gern. Aber von einer Sache bin ich überzeugt: Wenn schon der Große Vorsitzende betont, wie wichtig ein hochwertiger Rückkanal für Journalisten ist, dann heißt das, wir werden in den kommenden Monaten viel dazulernen müssen.
- Eine gute, aber nicht vollständige Übersicht über verschiedene existierende Kommentarsysteme bei Zeit Online.
- Mein „Trolldetektor“.
- Nachtrag 1: Aus dem Meedia-Artikel lese ich zwischen den Zeilen heraus, dass es mit dem Teufel zugehen müsste, wenn sueddeutsche.de nicht bald ein neues Kommentarsystem hat.
- Nachtrag 2: Auch Youtube arbeitet an einem neuen Kommentarsystem. Vermutlich unter starker Einbeziehung des G+-Profils und der Reputation allgemein.
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